Im Jahr 2005 wurde das European Forum for Primary Care (EFPC) mit einer klaren Vision gegründet: die Gesundheit der Bevölkerung durch eine starke, gerechte und nachhaltige Primärversorgung zu verbessern. Zwei Jahrzehnte später feierte das Netzwerk in diesem September sein 20-jähriges Bestehen mit einem Kongress in Wien – unter dem Motto „Playing the Symphony of Interprofessional Primary Care: harmonizing research and practice“. Dieses Bild einer Symphonie war nicht nur poetisch gewählt, sondern spiegelte den Geist der Veranstaltung wider: das harmonische Zusammenspiel verschiedener Berufsgruppen, die gemeinsam für eine bessere Versorgung eintreten. Für den DBfK war Robert Bitterlich, Projektmanager Community Health Nursing, vor Ort.
Einblicke in Primärversorgung Österreichs
Der Kongress begann mit einer Pre-Conference, die bewusst Bewegung und Natur in den Vordergrund stellte. Eine Wanderung durch die Wiener Umgebung sollte nicht nur die Teilnehmenden aktivieren, sondern auch symbolisch die Verbindung zwischen Gesundheit und einer ganzheitlichen Primärversorgung verdeutlichen. Es folgten Besuche in zwei Einrichtungen, die exemplarisch für die Entwicklungen in der österreichischen Primärversorgung stehen. Eindrucksvoll war der Besuch am FH Campus Wien, einer modernen Ausbildungsstätte mit 2.000 Studienplätzen für Pflegeberufe. Hier wird interprofessionelles Lernen gelebt: Studierende aus verschiedenen Gesundheitsberufen lernen gemeinsam, etwa in einem hochmodernen Simulationslabor mit digitalen Anatomie-Modellen. Die österreichische Pflegeausbildung ist dabei klar strukturiert: Von der einjährigen Pflegeassistenz über die zweijährige Pflegefachassistenz bis hin zur akademischen Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegekraft mit Bachelorabschluss. Letztere übernehmen erweiterte Aufgaben wie Aufnahme- und Entlassungsmanagement, Gesundheitsberatung oder das Legen peripherer Zugänge – ein Zeichen für die zunehmende Professionalisierung und Eigenverantwortung in der Pflege.
Ein weiterer Programmpunkt war der Besuch eines Primärversorgungszentrums (PVE), einer Versorgungsform, die seit 2014 als Ergänzung zu Einzelpraxen eingeführt wurde. Diese Zentren zeichnen sich durch lange Öffnungszeiten, regionale Angebotsanpassung und ein multiprofessionelles Team aus. Neben Hausärzt:innen arbeiten hier Psycholog:innen, Pflegefachpersonen und externe Spezialist:innen wie Wundmanager:innen zusammen – mit dem Ziel, chronisch Erkrankte besser zu versorgen, Prävention zu stärken und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu fördern. Derzeit existieren rund 100 solcher Zentren in Österreich, Ziel sind 300.
Gemeinsames Ziel: gute Versorgung für alle
Das Hauptprogramm des Kongresses bot eine beeindruckende Bandbreite an wissenschaftlichen Impulsen und praktischen Erfahrungsberichten. In der ersten Keynote von Ewout van Ginneken wurden Reformtrends europäischer Gesundheitssysteme präsentiert und er stellte die Frage, ob diese tatsächlich Best-Practice-Modellen entsprechen. Candan Kendir präsentierte internationale Daten zur Patient:innenzufriedenheit in der Primärversorgung, basierend auf über 107.000 Befragungen. Besonders berührend war die Keynote von Antoine Boivin, der die Verbindung von Fachwissen, Lebenserfahrung und sorgenden Gemeinschaften in den Mittelpunkt stellte – ein Plädoyer für eine menschliche, empathische Versorgung.
In zahlreichen Workshops wurde die Rolle der Pflege in der Primärversorgung vertieft. So wurden Evaluationsergebnisse zu Community Nurses in Österreich und Community Health Nursing in Hamburg vorgestellt. Eine vergleichende Studie beleuchtete die Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmediziner:innen und Pflegefachpersonen in Deutschland und Brasilien. Dr. Maria Kidner aus den USA beeindruckte mit ihrer selbstverständlichen Darstellung der eigenverantwortlichen Arbeit als „Doctor in Nursing Practice“, bei der sie Diagnosen stellt, Therapiepläne entwickelt und Behandlungen einleitet – ein Modell, von dem wir in Deutschland noch weit entfernt sind.
Auch die Organisation der Primärversorgung in Ländern wie Slowenien, Portugal und Österreich wurde diskutiert. Evidenzbasierte Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und Qualitätssicherung standen ebenso auf dem Programm wie die Frage, wie Nutzer:innenperspektiven besser integriert werden können.
Was diesen Kongress besonders machte, war die spürbare Gleichwertigkeit aller Berufsgruppen. Es ging nicht um Hierarchien, sondern um das gemeinsame Ziel: eine gute Versorgung für alle. Unterschiede zwischen Professionen traten in den Hintergrund, stattdessen wurde deutlich, wie wichtig Kontinuität, Koordination und Prävention sind. Qualität muss messbar sein, Aufgaben sollten nach Kompetenz und nicht nach Berufsbezeichnung verteilt werden. Und vor allem: Die Versorgung muss sich am regionalen Bedarf und an den Bedürfnissen der Menschen orientieren.
Multiprofesionelle Teams sind notwendig
Aus dem Kongress lässt sich für Deutschland eine klare Botschaft ableiten: Primärversorgung gelingt nur im Team. Ein rein arztzentriertes System – oder auch Primärarztsystem – wird den komplexen Herausforderungen nicht gerecht. Es braucht multiprofessionelle Teams, die eigenverantwortlich arbeiten – und in denen jede Berufsgruppe ihre Verantwortung auch tatsächlich wahrnehmen kann. Diese Teams müssen gemeinsam für eine gerechte, nachhaltige und nutzerzentrierte Versorgung eintreten. Die Perspektive der Pflege muss deutlich stärker als bisher in die Versorgungsstrukturen eingebunden werden. Der Ausbau der ambulanten Versorgung hin zu einer echten Primärversorgung ist dringend erforderlich. Denn nur mit einem starken Wir kann die Versorgung der Zukunft gelingen.